Liebe ist Bewusstsein, verkündete unlängst eine Frau in Social Media. Abgesehen davon, dass selbstverständlich jeder denken und meinen darf, was er möchte, ist es für mich erstaunlich, wie hartnäckig sich die Versimplifizierungen der Populäresoterik halten und zu welch limitierten Sichtweisen dies führt. Denn:
Liebe ist nicht Bewusstsein
Liebe kann mit Bewusstsein einhergehen, doch es sind zwei verschiedene Qualitäten. Wer sagt, Liebe ist Bewusstsein, könnte genausogut sagen, das Geld ist der Preis, der Bus ist die Fahrkarte, der Baum ist das Blatt … Liebe und Bewusstsein gehen im Idealfall miteinander einher, können aber auch gänzlich unabhängig voneinander existieren. Unbewusste Liebe ist z. B. die Liebe von Kindern, Tieren, Babys zueinander oder zu den Eltern.
Ein Bewusstseinsakt wiederum kann kognitiv sein, ein Erkennen und Abstrahieren, kann rein logisch oder nur rational sein, wie 3 + 2 = 5, doch wer die mathematische Gleichung löst, liebt nicht notwendigerweise die Gleichung, ist sich über den richtigen Rechenvorgang jedoch bewusst … Im anderen Fall steht ein Kind vorm Spiegel und begreift sich als Ich, begreift sich als individuelle Persönlichkeit und ist/wird sich seiner selbst bewusst. Auch das ist ein rein kognitiver Prozess, der von Herzensliebe und/oder liebevoller Zugewandtheit i. d. R. unberührt bleibt.
Liebe ist Wärme, Bewusstsein ist Licht
Bewusste Liebe vereint Wärme und Licht, Gefühl und Erkenntnis, und dieser Zustand kann als optimal begriffen werden, doch weder bedingen Liebe und Bewusstsein einander noch sind sie ident.
Es gibt auch im Leben und in der Spiritualität relativ komplexe Zusammenhänge, die nicht nur mit Liebe alleine beantwortet werden können. Liebe alleine ist niemals die Antwort und niemals die Lösung (auf alles), wenn auch in vielerlei Hinsicht die Heilung. Dass Liebe letztendlich nicht auf alles die Antwort/Lösung ist, ist eine sehr unpopuläre Betrachtungsweise, entspringt jedoch in der Annahme, dass es so sei, wiederum den Simplifizierungen der Populäresoterik. Dies zeigt sich häufig nach Vorträgen, Reden oder Monologen, die mit „Das Wichtigste im Leben ist die Liebe.“ enden.
Ja, Liebe ist eine wundervolle Kraft, die sich auf Personenebene und zwischen den Wesen und Seelen entfalten kann. Liebe ist wie der Klebstoff zwischen den Wesen. Doch Liebe ist z. B. nicht die Antwort und nicht die Lösung auf strukturelle Probleme einer kapitalistischen Gesellschaft, auf Umweltproblematiken oder Krieg. Hier kann Bewusstsein und Bewusstseinsbildung (dauerhaft) Abhilfe schaffen, doch weniger ein Aussenden der Herzensenergie auf z. B. die Handlungsweise von Politikern …
Ein weiteres Beispiel, wie fehlverstandene Liebe wirkt, zeigt sich z. B. anhand der heiligen Kühe in Indien. In Indien gelten Kühe als heilig. So kann es geschehen, dass eine Kuh, die zufällig in einen Tempel geht, von den heiligen Männern spontan verehrt und mit Liebe überschüttet wird. Sie wird mit Girlanden geschmückt, man zeichnet ihr farbige Symbole auf den Körper, tanzt um sie herum und wirft Blumen … Wunderbar. Spontane Verehrung und Liebe ergießen sich über die Kuh. Doch dass eben jene Kuh z. B. mangelernährt ist, dass ihr frisches Gras und frisches Wasser lieber gewesen wäre als eine Girlande um den Hals und massig Verehrung, sehen auch die heiligen Männer nicht.
Auch hier fehlt das Bewusstsein, bzw. das Innehalten und Reflektieren, denn liebten die heiligen Männer die Kuh wirklich, dann gäben sie ihr, was sie wirklich braucht, nämlich zu trinken und zu essen.
Darüber hinaus ist in jeder Hinsicht und egal auf welcher Bewusstseinsebene (ein Mensch steht), eine ethische Basis für den Entfaltungsweg der Seele unabdingbar, denn ohne ein wahrhaftig empfundenes und begriffenes Ethikverständnis ist die Lebensreise der inkarnierten Seele nichts anderes, als Autofahren mit verbundenen Augen, Kollisionen und Unfälle an der Tagesordnung … Wer daher von Liebe spricht und Ethik nicht versteht, fährt vielleicht liebevoll und mit liebevollen Absichten „herum“, verursacht aber „gut gemeinte“ Karambolagen und „liebevoll getötete“ Tiere …
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