Hier ist es also. Das Neue Testament. Gechannelt von Eva-Maria Ammon mit dem Titel „Tatort Jesus“. Und es beginnt mit einem langen Vorspiel, in welchem Fr. Ammon empfiehlt, dass man unbedingt selbst überlegen und reflektieren soll, ob das Gechannelte echt und wahr ist. So weit, so gut, doch dann lese ich die ersten Sätze und stoße mich schon an der Begrüßung:
„Meine geliebten Kinder …“
„Ich grüße euch, meine Brüder und Schwestern …“
„An meine geliebten Erdenkinder …“
Warum? In unseren Landen „Siezt“ man sich, und wenn ich jemanden nicht kenne, so bin ich weder Kind noch Schwester … Da hat der gechannelte Jesus schon mal keinen Stein im Brett bei mir, bzw. erinnert er zu sehr an Lee Carrolls Kryon: „Liebe Lichtwesen, hier spricht Kryon vom magnetischen Dienst …“ Ich kann nicht beurteilen, ob Kryon wirklich zu Lee Carroll spricht, doch mit so einer Begrüßung würde Kryon, selbst wenn ich irgendwo auf hoher See in Not geriete, weit an mir vorbei schwimmen, da rationales Selbstverständnis und „Eso-Gehabe“ keine glückliche Symbiose einzugehen imstande sind …
Und ebenso tut es der gechannelte Jesus von Eva-Maria Ammon. Dieser Umstand, dass in allen Channelings ähnlich oder gleich gegrüßt wird, erregt mein Misstrauen, denn wenn alle gleich grüßen (Engel, Meister und Konsorten), wie vertrauenswürdig sind sie dann noch?
Das grundsätzliche Problem mit Channelings
Channelings werden häufig als Spinnerei oder Scharlatanerie betrachtet. Liest man heute, was beispielsweise zur Jahrtausendwende gechannelt und im Netz veröffentlicht worden ist, ist diese Sichtweise gerechtfertigt. Dessen ungeachtet eröffnet sich für mich bei Channelings stets derselbe Fragenkatalog:
1. Channelt die Person wirklich oder interpretiert sie die eigene Fantasie?
2. Wenn die Person wirklich channelt, hat sie dann tatsächlich mit dem so benannten Wesen, Jesus, Erzengel, aufgestiegener Meister etc. per Namen zu tun? Oder gibt sich nur irgendein Geistwesen als Jesus, Erzengel oder aufgestiegener Meister aus, und die Person wird vollends in die Irre geführt?
Mit diesen Fragen im Hinterkopf darf und soll meiner Meinung nach jedes Channeling gelesen werden. Und obwohl auch Eva-Maria Ammon in Tatort Jesus einleitend eben darum bittet, kann dieses Vorhaben nach Lektüre des Buches nur mehr noch als Scheinvernunft, bzw. „Bauernschläue“ gewertet werden, denn was die Autorin als „Wahrheit“ präsentiert, ist eben doch nur Fiktion. Zunächst gibt sie vor, zu wissen, wie das Leben von Jesus wirklich war und wie sehr er missinterpretiert wurde. Doch Eva-Maria Ammons Revisions-Jesus ist so weichgespült, dass man versucht ist, ihn wegen akutem Testosteron-Mangel zum Arzt zu schicken. Ein derart passiv-farbloses Wesen darf sich meiner Meinung nach nicht „männlich“ nennen ohne zur Karikatur zu werden. Selbst der Original-Bibel-Jesus, den Fr. Ammon ja korrigieren will, wirkt dagegen wie ein viril-vibrierender Gottesheld …
Ich glaube daher nicht, dass dieses Buch gechannelt worden ist, bzw. wenn, dann war wohl nur ein verstorbener Langweiler (Geist) mit Geltungsdrang in der Leitung. Nichtsdestotrotz ist das Buch gut erfunden. Als Fantasyroman liest es sich relativ gut. Ein Lichtschiff gibt es auch sowie eine ganze Welterklärungsmythologie. Wirklich neu ist das ja nicht. Nur eben alternativ. Und in diesem Sinne unterhaltsam …
Der weichgespülte Jesus
Doch warum kann ich den geschilderten Jesus nicht so nehmen, wie er sich präsentiert? Warum begeistert er mich nicht, dieser vagabundierende, mitfühlende, heilende, mit seinem Vater in Verbindung stehende Weltenerlöser, der so sehr wie Eva-Maria Ammon selbst davon überzeugt ist, dass Männer aus der Retorte kommen und Frauen das echtere Geschlecht darstellen, quasi göttliches Reinblut besitzen?
Weil mir das alles zu viel Sci-Fi ist? Nein, ich mag Sci-Fi. Und wenn ich Fantasy nicht mögen würde, hätte ich das Buch ohnehin nicht fertig gelesen.
Auch ist es mutig, dass sich jemand zu postulieren traut, Frauen wären doch „das edlere Geschlecht“ – wenn auch mit Hintergrundmythologie. Da traut sich Fr. Ammon mindestens soviel, wie einst John Dunbar (Kevin Costner) in „Der mit dem Wolf tanzt“. Dieser reitet zu Beginn des Films in selbstmörderischer Absicht mit ausgestreckten Armen in den Beschuss – eine Todeserklärung, die er auf wundersame Weise überlebt. Und Frau Ammon? Ich wiederhole: Männer sind genetisch veränderte/erzeugte Wesen und daher „defekt“. Frauen sind genuine, native, originäre Erdenwesen mit Rein-DNA. Tja. Frau Ammon reitet immer noch. Vielleicht leitet sie den Beschuss ja auf den Revisions-Jesus um …
Was allerdings sehr störte, war die Jesus-Judas-Darstellung. Ab diesem Punkt wusste ich, dass ich Tatort Jesus sofort und und genausogut gegen die Bibel oder gegen einen Dan-Brown-Roman eintauschen konnte, denn „wahrer“ konnten diese auch nicht sein. Judas, der gewaltbereite Revoluzzer! Wie enttäuscht er, Judas, nicht war, dass Eva-Marias Jesus da nicht mitziehen wollte – mit in den Kampf gegen die Römer. Ja. Ich war auch enttäuscht. Schon komisch, dass Jesus da absolut nichts von seinem „Heiligen Zorn“ verspürte. Testosteronmangel? Aber musste er, Judas, wenn ich im Kontext des Buches bleibe, ihn deswegen gleich verraten? Natürlich hat es gemäß Bibel so zu sein, doch in Tatort Jesus: Mein Neues Testament wird hier nicht einmal „gedeichselt“, sondern von einem Satz zum nächsten, ohne sinnvolle Überleitung, dreht sich plötzlich die Achse: eben noch Best Buddies, gleich darauf erbitterte Feinde. Jeder Krimiroman am Kiosk stellt bessere Motive.
Da muss ich doch sagen, bei aller Liebe für diesen „neuen Jesus“, aber der biblische, so mythisch und nicht-faktisch er auch dargestellt sein mag, hat da bei weitem mehr Strahlkraft, um nicht zu sagen „Schmiss“.
Mein Fazit: Ich denke, dieses Buch ist a) nicht gechannelt, sondern mit einigen Manövern der Einbildungskraft entstanden oder b) von einem subversiv-religiösen Langweiler mit Geltungsbedürfnis in die Welt gesetzt worden. Als Alternative zur bekannten Bibelversion könnte man das Buch gelten lassen, sowie ja auch Nikos Kazantzakis Romanverfilmung „Die letzte Versuchung Christi“ als Gegenentwurf dasteht. Es ginge als Spekulation, sogar als Fantasy. Was aber nicht geht, ist der von der Autorin transportierte „Wahrheitsanspruch“ im Sinne des Channelings.
Somit sei jeder gewarnt, der sich das Buch kaufen will. Wer sich darüber nicht ärgern will, aber trotzdem interessiert ist, kann das Buch mit kühlem Kopf als eine Art „Neuinterpretation“ lesen.
Meine Bewertung: Null von fünf Sternen und eine Prise Feenstaub auf den peinlich-naiven Scheuklappen-Feminismus – möge er sich irgendwann in einen Frosch verwandeln und davon hüpfen.
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