Es gibt kaum einen Begriff, der der Willkür des subjektiven Erleben so sehr ausgesetzt ist, wie der Begriff der Erleuchtung/Illumination. Der vordergründige Mensch schmückt sich mit ihr, der tiefsinnige Mensch schweigt, der Suchende setzt sie als abstraktes Ziel in den Horizont seines Bewusstseins, der weise, reife Mensch blickt auf ein bis zwei Erleuchtungsmomente zurück, und der westliche Mensch meint für gewöhnlich, dass er umso erleuchteter ist, je öfter er Ekstase und Lichtphänomene erlebt …
Lauscht man daher mit einer gewissen Skepsis den Gesprächen in spirituellen Kreisen, so könnte die Tragweite des Missverstehens nicht größer sein. Ist Erleuchtung Erwachen? Erkennen? Ist Erleuchtung ein Zustand? Oder ein Prozess? Muss man sich um Erleuchtung bemühen oder fällt sie einem in den Schoß? Wer ist wann erleuchtet und darf sich als erleuchtet bezeichnen?
Bestünde über die diversen Gesprächsannahmen und über die Verwendung der Begriffe wenigstens eine gewisse Reflexion, so wäre damit auch die Grundlage für eine Diskussion gegeben. Eine Diskussion, die die Verwirrung beseitigen könnte, zumindest eine wahrhaftigere Kommunikation ermöglichte. Doch leider geschieht das nicht, da in den meisten Fällen „behauptet“ oder aneinander vorbeigeredet wird. Ich möchte daher gleich hier, als Erstmaßnahme, festhalten, dass auf einer einfach verstandenen Ebene Erleuchtung genau das ist, was jemand sagt, dass sie ist. Dies nun nicht als 360-Grad-Verteidigung, aber als erster Abwehrschlag gegen das Missverstehen.
Erleuchtung im Ausverkauf
Ebenso irreführend ist die stereotype Vorstellung des Westens von der Erleuchtung. Wir denken an bunt leuchtende Chakren, über dem Kopf ein Halo, tanzende Sterne, leuchtende Augen … Lametta und Weihnachten.
Zu diesem Bild gesellen sich dann noch diverse Ansagen: Erleuchtung ist möglich. Der Weg zur Erleuchtung in sieben Schritten. Erleuchtung – nur durch Retreat. Nur durch Yoga, Initiation oder Begegnung mit dem Krafttier … Erleuchtung als Kick.
Wir sehen also, es geht ums Verkaufen.
Vielleicht kann sich der eine oder andere noch an die Calgon-Werbung erinnern, in welcher der Schein-Experte entsetzt auf die Verkalkung in der Waschmaschine blickt und sich autoritär echauffiert, dass das mit Calgon nicht passiert wäre.
Ähnlich ist es dort, wo Erleuchtung verkauft werden soll. Ungeprüfte „Fachmänner“ detektieren zunächst den „Schaden“, nämlich die „Nicht-Erleuchtung“ oder die „Unbewusstheit“, die durch „Mangeldenken“, „Angst“, „Gefühl des Getrenntseins“, „fehlendes Mitgefühl“ usw. entsteht. Dann folgt der Tadel: Mit dem richtigen Denken wäre Ihnen das nicht passiert! Darauf folgt prompt die Lösung, nämlich das dreitägige Seminar oder das neue Buch …
Hier wird m. E. keine Beihilfe zur Erleuchtung geboten, sondern Beihilfe zum Verkauf.
Doch das Getrenntsein, Angst, Mangeldenken, sowie alles, was ein Mensch sehen, fühlen und begreifen kann, führt, wie ich noch zeigen werde, ebenso zur Erleuchtung, wie langjährige spirituelle Praxis. Ich sage bewusst „ebenso“. Denn nach Rom führen bekanntlich viele Wege.
Zur Begriffsgeschichte
Die antike philosophische Lichtmetaphorik prägte den Begriff der Erleuchtung etwas später als der Buddhismus. Begriffsurheber sind Platon, der im 4. Jh. v. Chr. gelebt hat und Siddhartha Gautama, der im 5. Jh. v. Christus gelebt hat. Während in Indien also der Buddhismus entstand, schuf der große Philosoph Platon in seinem sogenannten „Siebten Brief“ die Basis für den Begriff der Erleuchtung. Erleuchtung entstehe lt. Platon, indem man Benennungen, Wahrnehmungen, Erklärungen und Ansichten solange aneinander „reibe“, bis Einsicht über das jeweilige Thema aufleuchtet. Dieses Aufleuchten hat nach Platon tatsächlich einen „feurigen“ Charakter und entsteht wie durch die Reibung zweier Feuerhölzer. Dabei ist das auflodernde Feuer immer plötzlich, und genau so – plötzlich – erhellt es die Seele. So schuf Platon die prä-religiöse Basis für den Begriff, den im 3. Jh. der Philosoph Plotin zur Lehre von der „Schau des Lichts des Einen“ weiter entwickelte. Plotin erst prägte den Begriff der Erleuchtung so, wie wir ihn heute verstehen.
Nicht unwesentlich viel früher, jedoch viel weiter östlich, saß (lt. Überlieferung) der 35-jährige Siddhartha Gautama eines Tages unter der Pappel-Feige. Im Lotussitz. Genauer gesagt saß er dort lt. Überlieferung schon länger in tiefer Meditation. Und irgendwann war das erste (überlieferte) Erlebnis des Erwachens da. Genannt „Bodhi“. Erleuchtung. In dieser Erfahrung, so heißt es, erkannte Siddharta die Welt als eine Abfolge von Traumbildern, er erkannte sich in allem, was er einmal gewesen war und erkannte sogleich den Kreislauf der Wiedergeburt, die Seelenwanderung …
Platon schreibt über die Seele:
„Das Lernen ist eine Aktivität der Seele. Es besteht nicht darin, dass die Seele etwas Neues und Fremdes von außen aufnimmt, sondern darin, dass sie sich – etwa durch einen Anstoß von einem Lehrer – an ein Wissen erinnert, das sie eigentlich bereits zuvor besessen hat, über das sie aber bis zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst hat verfügen können. Dieses Wissen, die Kenntnis der Ideen und aller Dinge, hat sie aus ihrem vorgeburtlichen Dasein mitgebracht. Sie hat es an einem „überhimmlischen Ort“ erworben; hinzu kommen ihre Erfahrungen aus ihren früheren Erdenleben und aus der Unterwelt. Durch Wiedererinnerung (Anamnesis) macht sie sich das verschüttete Wissen verfügbar.“ – Quelle Wikipedia.
Es passierte demnach zur gleichen Zeit an zwei verschiedenen Orten etwas Ähnliches. Nicht nur nahm der Erleuchtungsbegriff Gestalt an, auch wurde über die Erleuchtungserfahrung berichtet, in welcher die Wiedergeburt der Seele erkannt wird, bzw. schreibt Platon über „frühere Erdenleben“ und Siddhartha hat selbige während der Erleuchtung „gesehen“.
Was Platon also sprachlich beschrieb, hat Siddharta lt. Überlieferung am eigenen Leib erfahren, sich durch Suche und Askese erworben. So entstand im Osten eine Religion und im Westen eine Lehre, die übrigens „Kirchenvater“ Augustinus im 4. Jh. n. Chr. adaptierte, bzw. christianisierte. Augustinus bezog sich auf Platon und Plotin. Christliches Gedankengut ist daher in Teilen „klassisch antik“, nur erkennen wir die ursprüngliche Lehre im christlichen Gewand nicht mehr wieder.
Erleuchtung heute
Heute versteht sich Erleuchtung grundsätzlich wie folgt: Erleuchtung ist eine Erfahrung, die meist – aber nicht nur – im religiös-spirituellen Rahmen geschieht und die das Alltagsbewusstsein weit über den Tellerrand der bisher erkannten Wirklichkeit hebt, sodass eine Gesamtschau gelingt, die sämtliche Weltangelegenheiten erklärt, sonach angstlösend, befreiend und erweiternd wirkt.
So ist Erleuchtung – egal ob man Duden, Guru, Lehrer heranzieht – heute gemeinhin definiert. Doch bei genauerer Betrachtung wird auch diese Definition unscharf. Über den Tellerrand kann man auch so hinausblicken, die Wirklichkeit kann man schon mit reiner Phantasie durchbrechen, eine Gesamtschau hat ein Pilot ebenso und angstlösend wirken Medikamente auch … Hallo Relativismus.
Ich kann daher nachvollziehen, wenn vermutet wird, dass es Erleuchtung gar nicht gibt, diese nur eine Erfindung sei …
Wie viele Menschen sind erleuchtet?
Wie viele Menschen, gemessen an der Weltbevölkerungszahl, tatsächlich erleuchtet sind/waren, lässt sich wenn, dann nur rückschließend und vage erheben. Wenn pro Nation nur ein einzelner Mensch ein Erleuchtungserlebnis hat, was ev. sehr niedrig angesetzt aber denkbar ist, dann wären es weltweit 194 Menschen, da die Erde 194 Staaten zählt.
Wenn 0,1 Prozent der weltweiten Bevölkerung situativ/temporär erleuchtet wäre, dann wären dies 7,47 Mio. Menschen. Die Welt zählt aktuell 7,47 Milliarden Menschen. Ein Prozent davon beträgt 74.700.000, also 74,7 Millionen Menschen. Kanada zählt ca. 36,5 Mio. Einwohner. Gehen wir davon aus, dass nur 1 % von 74,7 Milliarden Menschen temporär erleuchtet ist, so wäre das etwa zwei mal der Staat Kanada. Gehen wir davon aus, wie erwähnt, dass nur 0,1 % von 74,7 Milliarden temporär erleuchtet sind, so wären es noch immer 7,47 Mio. Menschen, was etwa der Einwohnerzahl des Landes Niedersachsen mit ca. 7,92 Mio. entspricht.
Und wenn es nur 0,01 Prozent wären, dann wären es 747.000 Menschen.
Es sind dies Schätzungen, die aus Überlegung heraus entstehen. Doch ginge man von den Niedrigstwerten aus, nämlich von 194 Menschen oder gar 0,01 Prozent, nämlich von 747.000 Menschen weltweit, dann erleben bedeutend mehr Menschen eine Erleuchtungserfahrung, als dies öffentlich bekannt ist. Öffentlich als „erleuchtet“ werden aktuell z. B. Karl Renz, Eckhart Tolle, die Amerikanerin Gangaji und andere betrachtet, doch die „Erleuchtungs-Prominenz“ steht m. E. weder pars pro toto noch für alle anderen 194 bis 747.000 Menschen, die gemäß Schätzung ein Erleuchtungserlebnis haben könnten.
Abschließend eine einfachere, „merkbare“ Definition: Erleuchtung ist eine Erfahrung, die das Bewusstsein verschiebt, sodass eine andere Perspektive eingenommen werden kann, die das Begreifen von größeren Zusammenhängen ermöglicht.
Ich berichte im nächsten Teil ausführlicher über die Erleuchtungserfahrung als solche und die Wege dahin, sowie im dritten Teil über den Zustand danach.
- Weiter mit Artikel Teil 2 – Wen betrifft Erleuchtung, Wege zur Erleuchtung.
- Weiter mit Artikel „Jiddu Krishnamurti über Erleuchtung und Kundalini“
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Der erleuchtete, spirituell (voll) bewußte, Mensch gibt das, was er sagen / schreiben will, durch die schon bei den alten Griechen bekannten „3 Siebe“.
Man sollte sich als Autor fragen: „Ist das, was ich zu sagen / schreiben gedenke
1. wahr?
2. notwendig?
3. liebevoll?
Hallo Heureka!
Ja, das hat auch Kirpal Singh ähnlich formuliert: „Sprich nur aus, was wahr, hilfreich, freundlich und notwendig ist.“
Er war ein indischer Meditationslehrer und viele Jahre Vorsitzender der Weltgemeinschaft der Religionen.
Ich denke, das sollte sich nicht nur ein Autor zu Herzen nehmen, sondern jeder, der mit anderen kommuniziert. 🙂
Vielen Dank!
Tanja
Im SELBST ruhendes Bewusstsein!
Befreit von allen Gebundenheiten- Hoerigkeiten,…..
Glueckseligkeit-
aus und in mir selbst!
Uneingefaerbtes renes SEIN!
Das ist das erste Mal, dass ich etwas über Erleuchtung lese, das nicht von alten Meistern stammt, und doch ganz wesentlichen Gehalt hat. Deine Darstellung spricht mich sehr an. Im Ergebnis unterscheiden wir uns vielleicht, aber ich bin neugierig auf Deine weiteren Ausführungen.
Hallo Hans-Joachim,
herzlichen Dank für deinen Kommentar. 🙂
Ich freue mich, dass ich dich erreichen konnte.
Es gibt zu obigen Artikel noch zwei weitere Artikel, siehe Linkverweise im Artikel. Da führe ich das Thema weiter aus. 🙂
Mit lieben Grüßen,
Tanja